Die Technik der Collage ist wohl dasjenige künstlerische Verfahren und Ausdrucksmittel, das in vielschichtiger Abwandlung und Variation die Kunst des 20. Jahrhunderts mit am stärksten beeinflusst hatte. Die Verwendung von Alltagsgegenständen und ihren Bruchstücken durch Aufkleben und künstlerisches Bearbeiten hatte zu Beginn des 20. Jahrhunderts das Ziel, der abstrahierenden Formensprache der Kubisten höheren Realitätscharakter zu verleihen. Stücke gemusterter Tapeten, Stoffe, Druckbuchstaben und Ziffern aus Zeitungen oder von Plakaten – papiers collés – waren das künstlerische Material für das Stillleben mit Frucht und Schale von Georges Braque (1912), das als erstes in Collagetechnik entstandene Bild gilt. Als künstlerisches Ausdrucksmittel steht die Collage am Anfang der klassischen Avantgardebewegungen und wurde von den unterschiedlichsten Stilrichtungen adaptiert. Im Ersten Manifest des Futurismus (1909) propagierte Filippo Tommaso Marinetti den Glauben an die Gegenwart und die Vision einer Zukunft ungeahnter menschlicher Höhenflüge in jeder Beziehung. Ihm schlossen sich Maler an, die in ihrer Kunst die zentralen Themen der damals aktuellen städtischen Gesellschaft, der Großstädte, ihrem Lärm und Tempo in Verkehr und Vergnügungslokalen sowie ihrer innewohnenden Kraft darstellten. Besonderes Interesse zeigten die Futuristen an der optischen Wirkung von Wort und Schrift. Sie verlangten eine Auflösung der gültigen Syntax und der traditionellen statischen Typografie. Damit übten sie starken Einfluss auf die Dadaisten und ihre Lautgedichte aus. Diese nutzten unter anderen die Collagetechnik als Ausdrucksmittel ihrer antikünstlerischen Einstellung. Mit der Fotomontage entwickelte Hannah Höch eine Sonderform der Collage, die durch Kombination verschiedener fotografischer Motive neue Bildinhalte entstehen lässt, die ebenfalls eine kritische Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit beinhalten.
Videotexten ist in diese Tradition der Collage und der kritischen Auseinandersetzung mit der Gesellschaft und ihrem Wandel durch neue technische und technologische Möglichkeiten einzuordnen. Es nutzt die heute zur Verfügung stehenden Mittel der digitalen Fotografie und der damit immer größer werdenden Bilderflut, des Web 2.0, in welchem jeder User gleichzeitig zum Internetmacher werden kann, und der Verortung durch das Global Positioning System (GPS), wodurch jedweder Ort der ungreifbar großen Welt lokalisierbar wird. Fokussierend auf die Mittel unserer alltäglichen und allgemeingültigen sprachlichen Kommunikation, die in Form von Wörtern oder Piktogrammen funktioniert, entstehen durch neue Zusammensetzung literarisch-künstlerische Werke.
Auf der ersten Bedeutungsebene stellen sich Textnachrichten, die von einem Sender verfasst und an einen Empfänger übermittelt werden, mittels Videotexten aus im Alltag gefundenen und fotografierten Wörtern dar. Die ursprüngliche Bedeutung der Wörter, seien es Begrifflichkeiten auf Straßenschildern, Plakatwänden, Baustellen oder Teile von Reklametafeln, verlieren ihre alltägliche, für jeden Straßenteilnehmer gültige Bedeutung und erfahren durch den Sender mittels Videotexten eine individuelle, persönliche Bedeutung, die sich ausschließlich an den einen Empfänger richtet. Die Allgemeingültigkeit der abstrakten Zeichen für jeglichen Teilnehmer des städtischen Alltags wird entzogen und in eine neue, personalisierte und lediglich individuell gültige Aussage umgesetzt. Ortsangaben zum Fundort der verwendeten Begriffe – als GPS-Daten oder durch schriftliche Anmerkung durch den Fotografen – verleihen der persönlichen Botschaft in einer zweiten Ebene eine topografische Zuordnung. Die übermittelte Botschaft erfährt dadurch eine topografische Landkarte und spiegelt die immer größere, immer schneller und notwendiger werdende Mobilität unserer Gesellschaft wider. In dritter Ebene beinhalten die einzelnen Wörter Geschichten zu ihrer Herkunft und Entstehung oder zu den Assoziationen während der visuellen Auswahl durch den Fotografen. Dies können genauso Erlebnisse während des Fotografierens sein, wie Gründe für die Auswahl oder Gefühle und Gedanken zu den Begriffen. Aneinandergereiht verleihen sie der Textnachricht, die allein durch den Sender bestimmt wird, eine übergeordnete, nicht steuerbare Erzählung. Jedes unpersönliche, für jedermann gültige Wort der öffentlichen Welt wird somit nicht nur zum Träger einer einzigen durch den Sender in seiner Textbotschaft vermittelten, persönlichen Bedeutung, sondern ist gleichzeitig Träger einer persönlichen Anmerkung des Fotografen.
Von Dr. Gundula Lang, 2011